Vortrag A. Fowler

Reichenbach 2010 – Begrüßungsrede

Meine Damen und Herren, sehr geehrte Referenten und Gäste, liebe Mitglieder und Freunde von ECOVAST,

die Deutsche Sektion von ECOVAST freut sich sehr, dass Sie zu unserer kleinen Tagung „Zukunftsmodelle der Werra-Meißner-Region“ gekommen sind. Mein Name ist Angus Fowler, wohnhaft in Marburg, Berlin und Newcastle upon Tyne in Nordengland, Historiker und Denkmalschützer, Vorstandsmitglied vom Förderkreis Alte Kirchen in Marburg, früher sehr aktiv auch im Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg , Gründungsmitglied und 2000-2004 Präsident des Internationalen Verbandes für den ländlichen Raum ECOVAST, seit 2004 Vorsitzender seiner Deutschen Sektion.

ECOVAST – Abkürzung bzw. Akronym für den englischen Namen European Council for the Village and Small Town – ist nach längeren Vorbereitungen 1984 hier in Hessen im kleinen Dorf Bellnhausen bei Marburg gegründet, ging ein wenig aus der Tätigkeit und wurde von führenden Mitgliedern und Gründern des Förderkreises Alte Kirchen Marburg ins Leben gerufen. Damals gab es wenig Lobby für den ländlichen Raum und seine Belange, Höfe und Gebäude standen leer, verfielen und wurde abgebrochen. Abgerissen wurde aber auch Fachwerkkirchen und ehemalige Synagogen . Hier in Reichenbach verschwand 1973/74 ohne Not und – für Viele unverständlich – mit der Zustimmung des damaligen Bezirkskonservators, Dr. Jürgen Milchler, später in Baden-Württemberg, ein große Experte vor dem Herren zur gotischen Wandmalerei und zur Ausmahlung der Marburger Elisabethkirche, aber nicht mit nicht dem geringsten Verständnis für die Bedeutung ländlicher Bauten das älteste Pfarrhaus, ein Fachwerkbau ,wohl um 1650 nach dem 30jährigen Krieg, Kroaten haben insbesondere 1637 hier im Dorf schwer gewütet. In Bischhausen bei Waldkappel fiel der Hauptteil der Kirche und die historische Orgel. Erfahrungen und Erlebnisse hier im Nordosten Hessens spielten somit eine Rolle bei den Gedanken, einen europäischen Verband für den ländlichen Raum zu gründen. Es gab wenig Verständnis für ländliche Bauten und ländliche Kultur, es gab auch kaum Verbündete. Es gab ab und zu Proteste wie die Nicht-Wahl Mitte der 1970er Jahre von August Franke, Landrat des Schwalm-Eder-Kreises, zum Vorsitzenden des Hessischen Heimatbundes, da er besonders viele Abbrüche zu verantworten hatte und als „Abbruch-Franke“ bekannt war. Bei der großen Hamburger Tagung des europäischen Denkmalschutzverbandes Europa Nostra 1978 fanden die hessischen Interessenten bald Verbündete in Deutschland und Ausland. Am Anfang hat sich ECOVAST insbesondere mit dem baulichen Erbe befasst, da dieses damals sehr bedroht war. Es kamen aber schon bei der Gründung und bei der weiteren Entwicklung Vertreter weiterer Disziplinen dazu, so dass ein breites Feld des ländlichen Lebens, Wirtschaftens und der Kultur und des Erbes behandelt wurde. Es gab enge Beziehungen zum Europarat in Straßburg, aber auch Beziehungen zur Europäischen Union, ECOVAST Mitglieder sind im EU Beratungsausschuss für den ländlichen Raum vertreten. Bereits vor 1989 haben wir begonnen mit Kollegen in Polen, dem damaligen Jugoslawien und Ungarn zusammen zu arbeiten. Heute gibt es nationale Gruppen, wie die 1988 gegründete Deutsche Sektion, z.B. auch in Russland, Rumänien, der Slowakei, Kroatien, dessen frühere Vorsitzende, Tihana Stepinac-Fabijanic, heute Präsidentin des Internationalen Verbandes ECOVAST ist. In Russland dieses Jahr veranstaltet die dortige Sektion in Herbst eine große Tagung zum Holzbau und Holzkultur. Wir haben und hatten verschiedene Arbeitsgruppen, am langlebigsten war die für ländliche Bauten. Schwerpunktethemen in letzter Zeit sind Kleinstädte (Neue Wittstocker Erklärung 2008/09) und Landschaft. Interessenten verweise ich auf unsere hier ausgelegte und zu erwerbende Publikationen, die von Irmelin Küttner herausgegebene Festschrift sowie das von Gerda Stachowitz herausgegebenes Heft zu Mecklenburg-Vorpommern. Wir freuen uns immer wieder neue Mitglieder zu begrüßen und haben Beitrittsformulare parat, wenn gewünscht, denn wir brauchen dringend jüngerer Nachwuchs, Auffrischung und Erneuerung.

Es gibt gute Gründe, dass wir unsere Jahresveranstaltung 2010 in Reichenbach veranstalten. Wir schöpfen sozusagen ein wenig aus den eigenen Kräften. Obwohl ich seit 1973 enge Beziehungen zum Ort habe, kam der Vorschlag nicht von mir selbst, sondern bei einem kleinen Treffen in Berlin als Prof. Ralf Bokermann bei der Grünen Woche war und wir mit unserer ECOVAST Kollegin Irmelin Küttner ein wenig verlegen über einen Ort für unsere diesjährigen Jahresveranstaltungen nachsinnten, denn ursprünglich war dies für Südwest-Deutschland gedacht, aber wegen fehlenden Verbindungen und Möglichkeiten nicht zustande gekommen. Ralf Bokermann erinnerte sich gerne an den Veranstaltungen zum 15. August 2007 mit dem großartigen Dorffest und Besuch des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Kochs hier in Reichenbach zum 800.Jahrfeier der Schenkung der Reichenbacher Klosterkirche an den Deutschen Orden, an den ich maßgeblich beteiligt war und vor allem an der energischen Organisation der Veranstaltungen durch Frau Ortsvorsteherin Frau Dipl.-Ing Architektin Birgit Koch und an meiner guter Zusammenarbeit mit ihr. Ralf Bokermann schlug vor – ohne weiteres vergebliches Suchen nach Orten – unsere Veranstaltungen hier in Reichenbach durchzuführen. Ich habe sofort zugestimmt, Irmelin Küttner hat den Vorschlag unterstützt, Birgit Koch hat sofort ihr Interesse bekundet und hier am Ort die logistische Vorbereitung unternommen (Unterkünfte, Abstimmung über Tagungsort usw.). Dafür danken wir ihr und den Damen, die sich bereit erklärten, Unterkunftsmöglichkeiten zu stellen, herzlichst, sie führt uns auch heute Nachmittag durchs Dorf und erklärt die vorgesehene Dorferneuerung. Unser Mitglied und ehemalige Vorsitzende Prof. Ralf Bokermann, früher an der Gesamthochschule Kassel – Abteilung Witzenhausen tätig, hat die Fachtagung und die kleine Exkursion nach Spangenberg heute Nachmittag vorbereitet, die Referenten für unsere bevorstehende Tagung angesprochen und mit dem Familienbetrieb Heerich, den er aus seinem beruflichen landwirtschaftliche Beratungsarbeit kennt, die Bewirtung organisiert. Ihm und dem Betrieb Heerich danken wir ebenfalls herzlich. Dem Burgverein Reichenbach und seinem Vorsitzenden Peter Riemenschneider verdanken wir insbesondere, dass sie relativ kurzfristig bereitwilligst den Sippel’schen Hof für unsere Veranstaltungen zur Verfügung gestellt haben, denn das Bürgerhaus ist am diesem Wochenende für die Konfirmations-Feierlichkeiten am Ort besetzt.

Hier schöpfen wir aber auch ein wenig aus eigenen Mitteln, denn ich selbst bin in keinem geringen Maße an der Rettung und Nutzung dieses Anwesens beteiligt gewesen und habe mit dazu beigetragen, dass vor mehr als 30 Jahre den Burgverein und seinen damaligen Vorsitzenden, Krankenhausdirektor Dr. Ernst Fröhlich, überzeugt werden konnten, dieses für das Dorfbild und wohl auch für die Dorfgeschichte so wichtiges Baukomplex in sein Eigentum zu übernehmen und zu nutzen. Dies ist eine der Früchten bzw. Folgen der Ausgrabungen an der Klosterkirche 1973-78. Denn als wir, die Ausgräber, 1974 für die zweite Jahreskampagne preiswertes Quartier im Ort suchten, und neben den Fachkollegen Seib und Altwasser, die als Kunsthistoriker in anderen Sphären schwebten, war ich damals schon ein wenig für die logistische Organisation und Verhandlungen mit örtlichen und regionalen Vertreter zuständig, haben wir mit stillschweigender Unterstützung vom damaligen Ortsvorsteher Willi Brandau den Hof schlicht besetzt – wie ein Jahr davor auch schon das zweite Pfarrhaus, heute Haus der Familie Koch – und so vom sicherlichen Abbruch und Untergang bewahrt. . Es übertrüg sich damit sozusagen die damalige Besetzungsbewegung in Städten, um Altbauten zu retten, hier – wohl sehr früh für den ländlichen Raum – auch auf Reichenbach. Ich kann erinnern, als ob es gestern sei, dass ich am Anfang der Kampagne 1974 bei einem Gewitter hier in Reichenbach spät Abends ankam und die erste Nacht beim sehr langen und heftigen Gewitter auf etwas Heu in der Scheune des Sippel’schen Hofes übernachten musste. Ich war damals aus Marburg gefahren und begleitet worden von den – vor kurzem verstorbenen – Marburger Mittelalter-Historiker Dr. Karl Heinrich Rexroth, der mich brauchte für eine noch von mir in der Gewitternacht erstellte Übersetzung ins Englische eines wichtigen Aufsatzes des bekannten deutschen und Marburger Landeshistorikers , Ordinarius für mittelalterliche Geschichte in Marburg, Walter Schlesinger. Diese Arbeit trug Früchte, denn später besuchten Schlesinger und sein ebenfalls sehr bekannter Marburger Kollege Prof. Helmut Beumann, beide meine akademischen Lehrer in Marburg, die Ausgrabung und haben durch ihren vorbildlichen und damals fast ungewöhnlichen Besuch dazu beigetragen, die Bedeutung der Ausgrabung und des damals in der wissenschaftlichen Welt völlig unbekannten Ortes herauszustellen und vor allem die zögerlichen Kunsthistoriker, Archäologen und Konservatoren von der Bedeutung zu überzeugen. In der Sturmnacht Mai 1974 geschah aber auch eine fundamentales Ereignis – man kann fast sprechen von europäischer Tragweite – in meiner Laufbahn, das schließlich mit in die Gründung von ECOVAST eingeflossen ist, denn Dr. Rexroth hat mich überzeugt, Mitglied zu werden bei einem jungen, damals ein wenig chaotischen Marburger Verein mit französischem Vorsitzenden (unser heutigen ECOVAST Mitglied), dem Förderkreis Alte Kirchen, beizutreten! Von der Notwendigkeit von aktivem Denkmalschutz hatte ich, damals erst 27 Jahre alt, mit meinen Marburger Grabungskollegen mit Helfern aus der Region, von denen mindestens einer, Gerd Brandau, aus Bischhausen heute anwesend ist, mit Hinweisen unseres älteren Kollegen des ewigen Doktoranden Gerhard Seib (siehe hier ausliegend seine schließlich fertiggestellte Dissertation zu Wehrhaften Kirchen), später Vorsitzender des Hessischen Heimatbundes vieles erfahren und in Reichenbach und den Dörfern der Region, wie oben schon beschrieben, erlebt. Es gab ja damals kein effektiver Denkmalschutz in Hessen, kein gültiges Denkmalschutzgesetz. Ja der Marburger Förderkreis müsste damals helfen, durch ein von der Friedrich-Naumann-Stiftung organisierten und von mir vorgeschlagenes „Kongress zum Denkmalschutz“ den politischen Druck auf den Hessischen Landtag zur Verabschiedung des Hessischen Denkmalschutzgesetzes 1974 zu erzeugen und so hoch zu schrauben, dass die Abgeordneten gerade noch vor Ende einer Legislaturperiode das Gesetz verabschiedet haben.

Als Ergebnis langer, oft sehr harter und kontroverser Diskussionen mit meinen Marburger Kollegen, die als Kunsthistoriker praktisch nur an den wissenschaftlichen Ergebnisse der Freilegung der abgebrochenen Teile der Klosterkirche von 1120-30 interessiert waren und dann ohne Zögern die Ausgrabungsstelle einfach hätten zuschütten wollen, Reichenbach verlassen und wieder in seinen Dornröschenschlaf als heruntergekommenes Nest zurückgeführt hätte, nachdem sie von wilden Marburger Studenten als Heuschreckenplage überfallen wurde, habe ich mich damals energisch nach englischen Vorbild z.B. Hadrian’s Wall, zahlreiche Kloster- und Burganlagen in Betreuung des damaligen englischen Denkmalamtes, heute English Heritage, mich dafür eingesetzt, dass für Reichenbach was bleibendes von der Ausgrabung zu sehen sein sollte, die ausgegrabenen und freilegten Teile, zumindest dauerhaft und sichtbar, präsentiert und so zu einer touristischen Attraktion für Reichenbach und die Umgebung gemacht und Reichenbach ein wenig seine frühere mittelalterliche Bedeutung wieder zurückgegeben werden sollen. Dies war damals ein sehr frühes und bewusstes Stück Regionalentwicklung. Denn während der Ausgrabung waren die Ausgräber überrascht vom außerordentlich öffentlichen Interesse für die Grabungsarbeiten. Wir haben jeden Sonntag Führungen durchgeführt, es kamen oft bis zu 300 Besucher der Führungen, u.a. die frühere Vorsitzende der Deutschen Sektion von ECOVAST Ursula Stratenwerth, ohne dass ich sie damals kannte. Wir haben auch ein wenig davon gezehrt, denn ich habe zu Spenden zu Gunsten der Grabungsarbeiten aufgerufen, denn wir hatte damals keine staatliche Förderung, und sie in einem alten Sommerhut gesammelt, dazu noch Orgelkonzerte in der Kirche als Benefiz gegeben. Trotz Benutzung als Friedhof seit 1788 waren die Mauern der Kirche von 1120-30 und der zwei Vorgängerbauten von ca. 1000 und des 9. Jh. relativ gut erhalten, so dass sie nur wenig ergänzt, frostsicher konsolidiert und ein wenig aufgebaut werden müssten – eine Maßnahme zumindest für ein mittelalterliches Bodendenkmal, die bis dahin in diesem Raum praktisch unbekannt war. Die sehr gut besuchten Führungen bewiesen dass die Grabungsfunde ein touristisches Magnet werden konnte. Die Denkmalschutzbehörden müssten aber erst gewonnen werden, denn die Ausgrabung, begonnen vor Verabschiedung des Hessischen Denkmalschutzgesetzes 1974, war nicht offiziell genehmigt, durchführt wurde sie unter dem Dach des Christlich-Archäologischen Seminars der Philipps-Universität Marburg. Da der Direktor des Seminars, Prof. Dr. Ulrich Fabricius, auch Oberkonsistorialrat bei der Kurhessischen-Waldeckischen Landeskirche war, hatten wir stets Zustimmung und Hilfe von der Landeskirche und Kirchengemeinde, wo notwendig, bei den Ausgrabungs- und Erhaltungsarbeiten am Kirchhof. Auch die lokalen, regionalen und nationalen Politiker müssten für die Durchführung und Finanzierung der Maßnahme im damaligen Zonenrandgebiet gewonnen werden. Glücklicherweise für uns war der lokale Bundestagsabgeordneter, Egon Höhmann Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen und konnte dafür gewonnen werden, er hatte schon an den Führungen ja teilgenommen. Die Unterstützung der Stadt Hessisch Lichtenau hatten wir schon lange für die Ausgrabung erfreut, interessiert war ebenfalls der damalige Landrat. Für die Ausführung der Maurerarbeiten konnte schließlich die in Hessisch Lichtenau stationierte Pioniereinheit der Bundeswehr gewonnen werden. Stets uns helfend im Hintergrund stand der damalige Ortsvorsteher von Reichenbach Willi Brandau, der heute bei uns ist und heute Abend einige Dias auch aus der bewegten Zeit der 1970er Jahre zeigen wird, ohne seine Hilfe und Unterstützung wäre, was wir heute hier sehen auch hier im Sippel‘schen Hof erst gar nicht zustande gekommen, ihm gebührt unsere höchste Anerkennung. Es ist aber auch dem Einsatz seiner Nachfolgerin Birgit Koch zu verdanken, dass die Veranstaltungen 2007 zum 800.Jahrfeier der Schenkung der Kirche an den Deutschen Orden mit dem Besuch des Ministerpräsidenten Koch und Vertretern des heutigen Deutschen Ordens aus Wien so erfolgreich durchgeführt werden konnten und das Ausgrabungsteam ist ihr für die gute Zusammenarbeit außerordentlich verbunden und dankbar.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und dass Sie diesen etwas längeren Erlebnis- und Erfahrungsbericht, den ich aber Ihnen nicht vorenthalten wollte, zugehört haben.

Angus Fowler, M.A., Marburg/Berlin/Newcastle upon Tyne, Vorsitzender der Deutschen Sektion von ECOVAST, ehemals Präsident des internationalen Verbandes ECOVAST, Vorstandsmitglied von Europa Nostra und des Förderkreises Alte Kirchen (Marburg), Vorsitzender von DenkmalWacht Brandenburg-Berlin